Beat Zurfluh, im Ständerat war kürzlich von privaten Spitex-Firmen die Rede, die «wie Pilze aus dem Boden schiessen». Was hat es mit diesen Firmen auf sich?
Diese privatrechtlichen Spitex-Firmen haben einen einzigen Zweck: Sie stellen pflegende Angehörige ein und helfen ihnen, Beiträge aus der Grundversicherung zu erhalten. Und von diesem Geld streichen sie dann einen Grossteil selbst ein. Die privaten Spitex-Firmen haben kein eigenes Pflegepersonal, das bei der Betreuung hilft. Und sie verrechnen ausschliesslich Leistungen der Grundpflege, weil nur diese gemäss einem Bundesgerichtsurteil von 2019 (siehe Box) durch Laien erbracht werden dürfen – eben die pflegenden Angehörigen. 2021 gab es schweizweit rund 40 solcher Firmen. Heute sind es über 300, einige von ihnen mit Hauptsitz im Ausland.
Folgenschweres Urteil
2019 entschied das Bundesgericht, dass pflegende Angehörige von der Grundversicherung Geld erhalten. Seither stellen immer mehr private Spitex-Firmen pflegende Angehörige ein und verrechnen bei Krankenversicherern die Grundpflege (Körperpflege, Hilfe beim An- und Ausziehen, beim Essen und Zubettgehen). Diese vergüten die Leistung mit 52.60 Franken pro Stunde. Hinzu kommt ein Beitrag der Gemeinde oder des Kantons in der Höhe von 20 bis 40 Franken.
Krankenversicherungen, Kantone und Gemeinden sind sich einig: Solche privaten Spitex-Firmen sind ein Problem für das Gesundheitssystem. Warum?
Weil sie für die Leistungen ihrer Angestellten – also der pflegenden Angehörigen – extrem viele Stunden verrechnen: bis zu elfmal so viele wie die öffentliche Spitex. Wenn eine Tochter ihrem pflegebedürftigen Vater morgens Stützstrümpfe anzieht, ihn vormittags dreimal aufs WC begleitet und ihm mittags das Essen zubereitet, dann wird jede einzelne Massnahme notiert. Und weil die pflegenden Angehörigen keine Fachausbildung haben, dauert das alles oft viel länger als bei Profis. Letztlich trägt das dazu bei, dass die Kosten für ambulante Spitex-Leistungen innert Kürze signifikant steigen – und mit ihnen die Prämien.
Quote
«Private Spitex-Firmen verrechnen bis zu elfmal so viele Stunden wie öffentliche Spitex.»
Bilden diese Kosten denn nicht die Realität ab? Die Pflege von Angehörigen ist in manchen Fällen ein Rund-um-die-Uhr-Job.
Dass Angehörige ihre Nächsten pflegen, ist wertvoll und verdient nicht nur Respekt, sondern eben auch eine finanzielle Entschädigung. Das findet ÖKK richtig. Doch es gibt drei Herausforderungen: Erstens sind Angehörige meist weniger effizient und nehmen sich mehr Zeit, was nachvollziehbar ist. Nur: Wie viel davon soll die Gesellschaft bezahlen? Zweitens hat das jetzige System hohes Missbrauchspotenzial, weil sich die tatsächliche Pflege nicht kontrollieren lässt. Drittens fördert es Trittbrettfahrer: Von den rund 80 Franken pro Stunde, die von der Grundversicherung sowie von Kanton oder Gemeinde bezahlt werden, kriegen pflegende Angehörige nicht einmal die Hälfte, nämlich höchstens 37 Franken. Den Rest behalten die privaten Spitex-Firmen für sich.

Was kann ÖKK gegen diese Entwicklung unternehmen?
Einerseits prüfen wir alle Anträge sehr genau. Andererseits sprechen wir uns wie prio.swiss, der Verband Schweizer Krankenversicherer, für einen tieferen Beitragssatz der Grundversicherung aus, weil private Spitex-Unternehmen oft nur wenige Kosten haben: Sie stellen pflegenden Angehörigen kaum Infrastruktur zur Verfügung, händigen keine Arbeitskleidung aus, bezahlen keine Arbeitswege, usw.
Wie reagieren Kantone und Gemeinden? Sie finanzieren dieses Geschäft ja mit.
Das Tessin hat letzten Herbst einen Aufnahmestopp neuer Spitex-Organisationen verhängt, und der Kanton Luzern zahlt pflegenden Angehörigen keine Beiträge. Das sind allerdings Notlösungen. Zahlreiche Politiker*innen haben den Bundesrat aufgefordert, sich dem Thema anzunehmen, dieses Jahr soll eine Stellungnahme folgen. Es geht um Grundsatzfragen: Sollen pflegende Angehörige weiterhin hauptsächlich aus der Grundversicherung bezahlt werden? Wenn ja, zu welchem Tarif? Derzeit haben pflegende Angehörige einen höheren Stundenlohn als ausgebildete Pflegefachleute. Und wie lässt sich verhindern, dass Trittbrettfahrer mit Prämiengeldern Kasse machen? Es braucht eine saubere Gesetzesgrundlage. Bis dahin wird es noch einige Jahre dauern.
Wie könnte eine faire Unterstützung von pflegenden Angehörigen funktionieren?
Der Kanton Graubünden prüft die Einbindung von pflegenden Angehörigen in die öffentliche Spitex – eine vielversprechende Lösung, die in Kantonen wie Zürich, Schwyz oder der Stadt Bern bereits praktiziert wird. Dort erhalten pflegende Angehörige zwar einen etwas tieferen Stundenlohn, dafür eine Anstellung mit Arbeitsvertrag, Versicherungen und Sozialleistungen. Und dank der Unterstützung durch Profis können sie sich auch mal einen freien Tag oder eine ruhige Nacht gönnen, statt sieben Tage die Woche zu arbeiten. Das wird in dieser Diskussion ums Geld oft vergessen. Die privaten Spitex-Firmen entlasten weder die pflegenden Angehörigen noch das Gesundheitswesen.
Über den Experten

Beat Zurfluh arbeitet als Pflegecontroller bei ÖKK und bearbeitet täglich mehrere Leistungsabrechnungen – unter anderem von privaten Spitex-Firmen, die in den letzten Jahren markant zugenommen haben.


